Die Physiker
Grundlagen
- Gattung: Komödie in zwei Akten. Dürrenmatt selbst bezeichnet sie als tragische Komödie (Tragikomödie), weil sie einen ernsten, tragischen Inhalt mit den Mitteln der Komödie (Übertreibung, Groteske, Zufall) darstellt.
- Autor: Friedrich Dürrenmatt.
- Entstehungszeit: 1962 (Höhepunkt des Kalten Krieges und der atomaren Bedrohung).
- Einheit: Hält sich an die klassischen Einheiten von Ort (Sanatorium), Zeit (einige Stunden) und Handlung (die Geschichte der Physiker). Dies ist eine ironische Brechung der aristotelischen Dramentheorie, da Dürrenmatt mit dem Inhalt (Zufall, Groteske) gerade diese Ordnung aufhebt.
- Themen:
- Verantwortung der Wissenschaft und ihrer Forscher: Die zentrale Frage des Stücks. Dürrenmatt fragt, ob Wissenschaftler sich ihrer Entdeckungen entziehen können, wenn diese die Menschheit gefährden.
- Die Gefahr des Missbrauchs von wissenschaftlichen Entdeckungen (insbesondere Atomphysik).
- Die Rolle des Zufalls in der Welt und im menschlichen Leben (zentral für Dürrenmatts Dramentheorie).
- Moral und Ethik: Die Frage, ob Wissen moralisch neutral sein kann und welche moralischen Verpflichtungen Wissenschaftler haben.
- Macht und Ohnmacht: Die Ohnmacht des Individuums gegenüber globalen politischen Kräften und dem unkontrollierbaren Zufall.
- Wahnsinn und Normalität: Die Verschiebung von dem, was als vernünftig oder verrückt gilt.
- Flucht und Versteck: Der Versuch der Physiker, sich der Verantwortung zu entziehen.
Dürrenmatts Dramentheorie
Dürrenmatt entwickelte seine eigene Dramentheorie, die im "Stoffplan zu Die Physiker" und in seinen "21 Punkten zu Die Physiker" dargelegt ist. Sie ist ein Gegenentwurf zum klassischen Drama und auch zu Brechts Epischem Theater.
- "Uns kommt nur noch die Komödie bei": Laut Dürrenmatt ist die moderne Welt zu komplex, chaotisch, unübersichtlich und kollektiv schuldig, als dass sie durch die klassische Tragödie abgebildet werden könnte. Die Katastrophe ist nicht mehr persönlich, sondern global. Nur die Komödie (insbesondere die Groteske) kann das Tragische heute noch darstellen, indem sie es überzeichnet und die Absurdität der menschlichen Existenz offenbart. Tragödien sind nicht mehr möglich, da die Schuld kollektiv ist und keine individuellen tragischen Helden mehr existieren können.
- Die schlimmstmögliche Wendung: Eine Geschichte ist laut Dürrenmatt erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Diese Wendung ist nicht voraussehbar und tritt durch Zufall ein. Sie ist nicht schicksalhaft, sondern absurd und unlogisch. Im Fall der Physiker ist die schlimmstmögliche Wendung, dass das Wissen genau an die Person gelangt, die es zur Weltherrschaft nutzen will.
- Die Groteske: Eine Stilform, die das Komische und Schreckliche verbindet. Sie überzeichnet und verzerrt die Realität, um ihre Absurdität, ihre Paradoxien und das Entsetzen dahinter aufzuzeigen. Das Lachen bleibt den Zuschauern im Halse stecken. Der Schauplatz des Irrenhauses ist selbst grotesk und spiegelt die Verrücktheit der Welt wider.
- Zufall: Der Zufall ist in Dürrenmatts Welt der entscheidende Faktor. Er ist nicht zu kontrollieren und führt oft zu ungeahnten, oft katastrophalen Ergebnissen. Der Versuch, den Zufall zu eliminieren, führt erst recht zur Katastrophe.
Handlung
- Ort: Der Salon des privaten Sanatoriums "Les Cerisiers" (Die Kirschbäume), einer scheinbar idyllischen, aber in Wirklichkeit hochgefährlichen Anstalt.
- Akt 1: Inspektor Voß ermittelt, weil der Patient "Einstein" (Kilton) seine Krankenschwester ermordet hat – genau wie "Newton" (Eisler) drei Monate zuvor. Der dritte Physiker, Möbius, erhält Besuch von seiner ehemaligen Familie, die ihn für verrückt hält und nicht versteht, warum er sich in die Anstalt begeben hat. Am Ende des ersten Aktes gesteht Möbius, dass er seine Krankenschwester getötet hat, um ein Geheimnis zu bewahren. Das Motiv der Morde scheint sich in einem Muster zu wiederholen.
- Akt 2: Die drei Physiker geben sich einander zu erkennen:
- Möbius ist der geniale Entdecker der Weltformel, die die gesamte Physik revolutionieren und unvorstellbare Macht verleihen könnte. Er hat sich in die Anstalt zurückgezogen und den Wahnsinn vorgetäuscht, um sein Wissen geheim zu halten und die Menschheit vor dessen Missbrauch zu schützen (Opferbereitschaft).
- "Newton" (richtiger Name Kilton) ist ein westlicher Geheimagent, der den Wahnsinn vortäuscht, um Möbius' Formeln für den Westen zu gewinnen.
- "Einstein" (richtiger Name Eisler) ist ein östlicher Geheimagent, der den Wahnsinn vortäuscht, um Möbius' Formeln für den Osten zu gewinnen.
- Die drei beschließen, ihr Wissen weiterhin geheim zu halten, um die Welt vor der Vernichtung zu bewahren. Sie sind sich der immensen Gefahr ihrer Entdeckungen bewusst.
- Die schlimmstmögliche Wendung: Nach ihrem Pakt tritt die Direktorin des Sanatoriums, Dr. Mathilde von Zahnd, auf den Plan. Sie enthüllt, dass sie keineswegs verrückt ist, sondern die einzig wirklich Wahnsinnige. Sie hat die gesamte Zeit Möbius' Manuskripte kopiert, bevor er sie vernichten konnte, und plant, mit der Weltformel und Möbius' Wissen die Weltherrschaft zu erlangen. Sie hat die Morde inszeniert, um die Physiker zu isolieren und ihre Flucht zu verhindern. Die Pläne der Physiker sind gescheitert; was sie verhindern wollten, ist eingetreten – die Katastrophe ist nicht verhindert, sondern durch ihren Versuch der Verhinderung erst ermöglicht worden.
Figurenkonstellation
- Johann Wilhelm Möbius: Ein geniales Physikgenie. Er ist der tragische Held (im Sinne einer Komödie), der die Verantwortung für seine potenziell vernichtenden Entdeckungen übernimmt und dafür seine Freiheit, seine Karriere und seine Familie opfert. Er täuscht den Wahnsinn vor, um sein Wissen zu verbergen und die Welt zu retten. Er ist der "mutige Mensch", der versucht, sich dem Schicksal entgegenzustellen, aber am Zufall (Dr. von Zahnd) scheitert. Sein Scheitern ist exemplarisch für die Ohnmacht des Einzelnen.
- "Newton" (Alec Kilton) & "Einstein" (Joseph Eisler): Repräsentanten der beiden rivalisierenden Machtblöcke (Westen und Osten) im Kalten Krieg. Sie argumentieren, dass die Wissenschaft neutral sei und ihre Erkenntnisse der Allgemeinheit gehören müssen, auch wenn sie machtpolitisch genutzt werden. Sie sind Idealisten ihrer jeweiligen politischen Systeme, die aber letztlich ebenfalls Machtinteressen dienen.
- Dr. Mathilde von Zahnd: Die Antagonistin und die eigentliche, "verrückte" Akteurin der Katastrophe. Sie ist eine machtbesessene, bucklige Ärztin, die den Wahnsinn nur vortäuscht, um an Möbius' Wissen zu gelangen. Sie repräsentiert den unkontrollierbaren Zufall, die Hybris und den Missbrauch der Wissenschaft. Sie ist das personifizierte Schlimmstmögliche.
- Inspektor Voß: Ein pragmatischer, fast karikaturhafter Polizeibeamter, der die Morde untersucht. Er ist der "normale" Mensch, der mit der Absurdität und Komplexität der Situation überfordert ist.
Schluss
Das Drama endet mit den resignativen Monologen der drei Physiker, die ihre gespielten Identitäten wieder annehmen. Sie sind gefangen in der Anstalt, ihre Mission ist gescheitert, und die Welt ist dem Untergang geweiht, da von Zahnd nun Möbius' Wissen besitzt und nutzen wird. Die Katastrophe, die Möbius verhindern wollte, wird durch seinen Versuch, sie zu verhindern, erst recht herbeigeführt (Ironie des Schicksals, Dürrenmatts "schlimmstmögliche Wendung"). Das Stück endet ohne Auflösung, mit der Erkenntnis der Ohnmacht der Wissenschaftler und der unausweichlichen globalen Gefahr. Es ist ein Endzeit-Szenario.
Verbindungen zu anderen Werken:
- Leben des Galilei (Verantwortung der Wissenschaft):
- Parallelen: Beide Dramen thematisieren die Verantwortung der Wissenschaftler für ihre Entdeckungen. Sowohl Galilei als auch Möbius stehen vor der Wahl, ihre Wahrheit zu veröffentlichen oder zurückzuhalten, um Schaden abzuwenden. Beide ringen mit moralischen Dilemmata. Bei beiden geht es um die Kontrolle von Wissen durch Macht.
- Unterschiede: Galilei widerruft und arbeitet heimlich weiter, um die Wissenschaft zu bewahren. Möbius entscheidet sich für die komplette Geheimhaltung und den Rückzug, um die Welt zu schützen, scheitert aber gerade dadurch. Galilei handelt strategisch, Möbius ethisch-prinzipiell. Galilei ist ein Renaissance-Mensch, der an den Fortschritt glaubt; Möbius ein moderner Wissenschaftler, der die Gefahren des Fortschritts sieht. Bei Brecht gibt es noch eine Hoffnung auf Veränderung durch das Publikum; bei Dürrenmatt bleibt am Ende nur die Resignation.
- Corpus Delicti (Konflikt Individuum vs. System, Missbrauch von Wissenschaft):
- Parallelen: Alle drei Werke behandeln den Missbrauch von wissenschaftlicher Erkenntnis durch Machtstrukturen und den Konflikt des Individu mit einem übermächtigen System. Die Frage nach der Kontrolle des Lebens und der Wahrheit durch Autoritäten ist zentral.
- Unterschiede: In Die Physiker geht es um die Vernichtung der Welt (Atombombe), in Corpus Delicti um die Kontrolle des individuellen Lebens. Während die Physiker versuchen, ihr Wissen nicht preiszugeben, kämpft Mia Holl darum, ihre Freiheit zurückzuerlangen. Dr. von Zahnd ist eine einzelne, wahnsinnige Akteurin, die das Wissen missbraucht, während in Corpus Delicti ein ganzes System auf dem Missbrauch von Daten basiert.